Meine Reise nach Peru zum Volk der Asháninka

1995 waren die beiden spanischen Missionare Benjamin Tapia und Tomás Martin in Österreich und Deutschland zu Besuch und erzählten von ihrer Arbeit im tropischen Regenwald von Peru. So waren sie auch 1996, begleitet von Bruder Peter Amendt von der Missionszentrale der Franziskaner in Bonn, bei uns zu Hause. Diese Begegnung und die Erzählungen der Beiden haben mich sehr berührt. Ich hätte damals nicht geglaubt, daß ich 7 Jahre später tatsächlich der Einladung zu einem Gegenbesuch nachkommen und für 3 Monate nach Peru reisen würde.

Nach Bürgerkrieg und Vertreibung haben die Indios vom Volk der Asháninka begonnen, ihre einstigen Siedlungen nach der Zerstörung wieder neu aufzubauen. Während Bruder Benjamin sich aus gesundheitlichen Gründen von der direkten Missionstätigkeit vor Ort zurückziehen mußte ist Bruder Tomás nach der Flucht vor den Terroristen des „Leuchtenden Pfades“ (Sendero Luminoso) wieder zu den Asháninka zurückgekehrt und lebt mit ihnen im Dorf San Antonio de Cheni am Rio Tambo im Departement Junin. Das Dorf ist nur auf dem Flussweg nach 5 Stunden Kanufahrt von Satipo aus zu erreichen. Es gibt keinen Strom, kein Telefon, keine Zeitung - nur den Urwald. Doch ehe man den Rio Tambo erreicht muß man auf der Straße, von Lima auf der Carretera Central kommend, den 4818 m hohen Andenpass Abra Anticona überwinden. Leider ist die Ferrocarril Central, die höchste Eisenbahnlinie der Welt, die diesen Pass auf einer Höhe von 4781 m überquert, zur Zeit für den Personenverkehr nicht in Betrieb. Hat man die herrlichen schneebedeckten Gipfel der Anden hinter sich gelassen geht es bald zügig in atemberaubender Serpentinenfahrt hinunter über La Oroya und Tarma nach La Merced, bis wenig später nach 6 Stunden Autofahrt in Satipo die letzten Ausläufer an der Ostseite der Anden erreicht sind. Dies ist das Gebiet zwischen Rio Tambo und Rio Ene wo die Terroristen, aus der Gegend um Ayacucho kommend, elf Jahre lang mit Bedrohung, Vertreibung, Tod und Zerstörung herrschten. Auch heute noch, 4 Jahre nach dem Ende der Kämpfe, in deren Verlauf die Indios sowohl unter den Terroristen von MRTA und Sendero Luminoso als auch unter den sie bekämpfenden Militärs litten, sind die Menschen noch traumatisiert und reagieren nervös auf jeden unangemeldeten Eindringling in ihr Gebiet.
Als angemeldeter Freund von Pater Tomás wurde ich jedoch überaus herzlich von den Asháninka empfangen. Das Dorf Cheni wird von einer handvoll Großfamilien, etwa 350 Personen, bewohnt, die ihren Lebensunterhalt mit dem Anbau von Yucca, Mais, Erdnüssen, Kakao, Kaffee, Bananen und anderen Früchten bestreiten. Beim Fischen und Jagen ist man ständig auf der Suche nach der seltenen proteinhaltigen Nahrung. Zur Begrüßung wurde mir eine Halskette aus Affenzähnen überreicht, mein Gesicht mit roter Farbe, gewonnen aus den Früchten des Achotestrauches bemalt und der obligatorische Begrüßungstrunk Masato in einer Kokosnußschale angeboten. Zur Herstellung dieses Getränkes kauen die Frauen Yuccawurzeln. Durch den Speichel wird dieser Saft dann fermentiert und zur Gärung gebracht. Dieses lauwarme Getränk (es gibt ja keinen Kühlschrank) ist trotzdem erstaunlich erfrischend und stärkend. Der Alkoholgehalt ist etwa mit unserem Bier vergleichbar. Teodoro, das Oberhaupt einer der Familien, zeigte mir bei einem ersten Rundgang das Dorf.

Die Asháninka, zu deutsch „die Brüder von Allen“ oder auch einfach „Leute“, halten ihren Siedlungsplatz mit den Macheten immerzu von der unwahrscheinlich schnell wachsenden Vegetation frei, um ihre Kulturen anbauen zu können und gefährliche Schlangen, Skorpione und anderes Getier vom Gelände fernzuhalten. Auch die Kinder gehen früh mit der Machete aus dem Haus, damit sie ihren täglichen Weg zur Schule immer freihalten können. Dies ist sehr wichtig für das Überleben der Indios im Dschungel, dem die Menschen tagtäglich ihr eigenes Leben abringen müssen. Krankheiten wie Gelbfieber und Malaria kommen immer wieder vor. Die Menschen sind sehr arm, haben nur das Nötigste zum Leben. Und doch haben sie noch mehr, wie ich im Laufe der Zeit erfahren durfte. Auch hatte ich nicht das Gefühl, daß sie sich selbst als arm sehen. Sie kennen kein anderes Leben als das, was sie und ihre Vorfahren schon seit Jahrhunderten leben. Durch den Kontakt mit der sogenannten Zivilisation sehen sie aber doch, was möglich oder machbar wäre, um ihre Bedürfnisse nach einem besseren Leben zu befriedigen. Erstaunlich und sehr beruhigend für mich war, daß sie solche Angebote unserer Zivilisation wie Coca Cola, Taschenradios, Mode oder Kosmetik nach dem Ausprobieren sehr bald wieder uninteressant finden und sich Dingen zuwenden, die tatsächlich Hilfen sein können. Man kann nur hoffen, daß sie sich dieses gesunde Lebensgefühl noch lange erhalten. Trotzdem glaube ich nicht, daß wir das Recht haben ihnen vorzuschreiben wie sie leben sollen. Entwicklung ist auch Entwicklung der Kultur. Wir können von ihnen nicht erwarten, daß ihre Entwicklung stehenbleibt, sie für immer „ursprünglich“ leben sollen, nur damit wir satten und gestörten Menschen das gute Gefühl haben daß es „so etwas“ noch gibt.

Die Asháninka sind sehr wißbegierig und lernfreudig. Sie möchten viel von dem lernen was nötig ist um die Krankheiten, die ihnen zum Teil erst von den Europäern gebracht wurden, zu bekämpfen. Sie möchten auch ihre Nahrungssituation verbessern. Durch die Abholzung des Regenwaldes für Erdölprojekte gehen immer mehr Lebensräume für die ohnehin wenigen jagdbaren Tierarten zugrunde. Auch ihre Häuser wollen sie in Zukunft besser und dauerhafter zu bauen. Dieser letzte Wunsch wurde besonders stark wach, als die Familien nach der Vertreibung nach und nach zu den einstigen Siedlungsplätzen zurückkamen. Sie fragten Pater Tomás, ob er ihnen dabei helfen könne da sie weder Material noch Anleitung zum dauerhafteren Bauen hatten.
Die traditionelle Bauweise ihrer Hütten (palmenbedeckte Dächer auf Holzpfählen) erforderte spätestens nach drei Jahren eine komplette Erneuerung da dieses Material durch das feuchte und heiße Klima sowie durch Termiten bald zerstört ist. Man muß sich vorstellen, was bei einer Luftfeuchtigkeit von bis zu 97% und ständigen Temperaturen um 30°C das Material, aber auch der menschliche Organismus leisten müssen. Es ist unmöglich, hektisch oder nach Hau-Ruck-Manier zu arbeiten. Alles geht nur Stück für Stück, Schritt für Schritt, „little by little“ wie Tomás mir immer wieder sagte (ich habe ihn englisch sprechend immer besser verstanden, da er dann nicht so schnell reden konnte wie auf spanisch). So wird verständlich, daß manchmal für unsere Begriffe unvorstellbar lange Zeiten vergehen, bis verschiedene Arbeiten beendet werden. Aber auch die Geburt von Ideen und die Planung der Arbeit und des Lebens sind von diesem langsamen Tempo durchdrungen.
Schon manch ein besserwissender Europäer oder Nordamerikaner, der mit großem Tatendrang kam um zu helfen und etwas aufzubauen und dabei den Indios zeigen wollte wie „richtig“ gearbeitet wird, mußte am eigenen Leib diesen „Tropikalisationseffekt“, wie ihn Tomás nennt, verspüren. Hinzu kommt, daß durch die wirtschaftliche Situation und die erschwerten Transportbedingungen viele Vorhaben zu 80% von Unvorhergesehenem begleitet sind. Iin der Regenzeit sind viele Straßen unpassierbar oder von Erdrutschen bedroht, die Flüsse für den Schiffsverkehr zu gefährlich, Brücken weggerissen usw. Eine Bootsladung mit 100 Sack Zement, wenn sie nicht auf dem Grund des Flusses endet, wie schon vorgekommen, muß innerhalb einer Woche verarbeitet sein, weil der Zement bei diesem Klima sonst unbrauchbar wird. Als so eine Lieferung unangekündigt plötzlich ankam hatten wir alle Hände voll zu tun, um die Grundplatte für das neue Gemeinschaftshaus ohne Verlust fertigzustellen.
Angel und Marcelino, der Häuptling oder „Presidente de comunidad“ wie sie hier sagen, haben sich das Betonieren angeeignet und leiten alle anderen an. Wenn sich die Männer an solchen Tagen zu Gemeinschaftsarbeiten treffen tun sich die Frauen zusammen und bereiten gemeinschaftlich das Essen für das ganze Dorf. Gegessen wird dann oft erst am späten Nachmittag und man feiert gemeinsam das am Tag Geschaffene. Selten habe ich während schwerer Arbeit bei Temperaturen über 30°C so viel Lachen, Spaß und Freude erlebt.
Tomás ist nach 35 Jahren als Missionar in Peru erfahren genug, um mit diesen Bedingungen umzugehen. Er macht keine selbstausgedachten großen Projekte für die Indios, wenn zweifelhaft ist, ob diese aus ihren bisherigen Erfahrungen heraus die Notwendigkeit nachvollziehen können. Unter Mission versteht er, geduldig mit und bei den Menschen zu leben und mit ihnen auch zu leiden um dann Hilfe und Unterstützung zu organisieren wenn sie ihn darum bitten ihre „eigenen“ Ideen umzusetzen. Dies ist keine Arbeit, die in einem kurzfristigen Einsatz zu bewerkstelligen ist. Dazu braucht es Geduld, Mitgefühl, Mitleiden und viele Jahre, im Falle von Tomás ein ganzes Leben. Daß diese Art von Missionstätigkeit nicht reibungslos von allen angenommen werden kann, die schnelle Erfolge sehen wollen, ist verständlich. Deshalb hat Bruder Tomás auch nicht immer die nötige und wünschenswerte Unterstützung seiner eigenen Brüder in der Franziskanerprovinz und beim Bischof. Auch einige der von außen gesteuerten politischen Organisationen der Indios sehen seine Arbeit mit Skepsis. Die Erfolge sind trotzdem unübersehbar. Im Unterschied zu vielen anderen Asháninka-Comunidades und auch vielen Missionen sind die Menschen hier in Cheni fröhlich, hoffnungsvoll und zuversichtlich. Die Projekte, die sie nach reiflicher Überlegung und guter Vorbereitung „little by little“ umsetzen haben Bestand. Sie laufen auch nach Jahren noch und Tomás hofft, auch noch wenn er er mal nicht mehr da ist.
Sergio zeigte mir stolz die Kuhherde von Cheni, ein Projekt mit Unterstützung von Tomás Freunden aus Kanada. Es ist die einzige Herde in der ganzen Region, die in den letzten Jahren gewachsen ist und nicht nur „aufgegessen“ wurde.
Severino, der Anführer der Jungen zwischen 10 und 14 Jahren, welche schon lange darauf brennen endlich auch bei der Versorgung der Rinder mitarbeiten zu dürfen, sagte zu Weihnachten zu Pater Tomás: „Padre, nächstes Jahr brauchst du uns keine Panetons (traditionelles Weihnachtsgebäck in Peru) zu spendieren. Wir können dann eine Kuh verkaufen und die Panetons selbst bezahlen!“
Tomás standen die Tränen in den Augen und sagte mir, daß er in solchen Momenten weiß warum er hier ist. Die neuen Häuser mit Betonfußboden und Blechdach, mit finanzieller Hilfe aus Österreich und Deutschland gebaut, geben den Menschen Sicherheit in der Nacht und haben zu einem großen Gewinn an Lebensqualität geführt. Vor allem legen die Leute von Cheni Wert darauf, daß sie die Häuser selbst gebaut haben. „Auch das Haus vom Padre haben WIR gebaut!“, versichert mir José stolz.

Wo ist der christliche Aspekt der Missionstätigkeit von Pater Tomás? Er ist doch schließlich zuerst Priester! Auch solche Fragen werden mit einem Unterton von Sorge manchmal gestellt. Der christliche Aspekt der Missionstätigkeit von Pater Tomás ist vom alltäglichen Leben nicht zu trennen. Er verwirklicht sich ganz selbstverständlich im Leben, im Teilen des Lebens, im täglichen Kampf um das Leben. Sicher geschieht nicht alles nach römischen Vorgaben, aber es ist wahrhaftig und die Menschen nehmen das Angebot des Glaubens an.
So schmerzlich, beschämend und widersprüchlich die Umstände auch waren, unter denen das Evangelium vom „lebendigen“ Gott vor über 500 Jahren zu diesen Menschen kam - es kam zu schon immer tief religiösen Menschen, die im Herzen für diese Botschaft offen waren.

Ich habe bei den Asháninka von Cheni fröhliche Menschen kennengelernt. Sie lachen den ganzen Tag mit einem unnachahmlichen kindlichen Lachen - bei der Arbeit, beim Feiern, beim Masatotrinken, bei der Predigt im Gottesdienst. Ich habe bei ihnen trotz Armut eine lebendige Hoffnung erlebt. Sie LEBEN.

Bei einem Heimaturlaub in Spanien wurde Bruder Tomás als Missionar im Dschungel von Peru vorgestellt. Auf die Frage, was er dort mache, antwortete er: „Ich lebe dort.“ Auf die ungeduldige Nachfrage: „Ja, aber WAS machen sie dort?“ sagte er noch einmal: „Ich lebe dort! Leben sie?“

 

Diese Koordinaten führen sie mit einer geeigneten Applikation zur Ansicht von Cheni: 11°15'51.10" S  73°41'55.87" W